צרויה שלו
Zeruya Shalev
Zeruya Shalev, geboren 1959 in Jerusalem, ist eine der meistgelesenen israelischen Prosa-Autorinnen der Gegenwart. Ihre letzten sechs Romane liegen in deutscher Übersetzung vor. Ich habe ihren neuesten Roman Schicksal übersetzt, der 2022 auf Deutsch erschien, und nun ihr kühnes Erstlingswerk aus dem Jahr 1994 Nicht ich, einen experimentellen avantgardistischen Roman, der damals vom männlichen israelischen Literaturbetrieb komplett verrissen wurde. Da sich der deutsche Verlag dafür interessierte, hat sie sich nun noch einmal dieses Textes angenommen und ihm ihre langjährige Schreiberfahrung zugute kommen lassen, ohne jedoch seinen Stil, seine Wildheit, den rohen Schmerz, die rohe Wut und die Verzweiflung dieses Textes zu mildern. Wer auch nur ein Buch von Zeruya Shalev gelesen hat, wird beim Lesen ihres Erstlingswerks merken, dass es sich hier um eine Art Blackbox der Autorin handelt, um das Urmaterial, aus dem alle späteren Romane schöpfen.
הכתיבה
Das Werk
Von Anfang an schrieb die studierte Bibelwissenschaftlerin einen sehr opulenten Stil, der auch auf alte Sprachschichten des Hebräischen zurückgreift und diesen Wortschatz in areligiöser, säkularer Absicht verwendet, um in sehr persönlichen, oft intimen Momenten emotionale Intensität erzeugen. Ihr Erstlingsroman, den sie nahe an der Technik des Bewusstseinsstroms erzählt, ist stärker als alles Spätere von Mündlichkeit geprägt. (Das Hebräische kann diesen Spagat von biblischer und moderner Sprache.) Während ihre späteren Bücher sich an klassischen Romanformen orientieren, was der Lesererwartung entgegenkommt, ist ihr erster Roman vom Aufbau her fragmentarisch. Man kann sich nur schwer zwischen den verschiedenen Versionen, die die Heldin erzählt, orientieren, aber diese fehlenden Zusammenhänge zwischen einzelnen Szenen geben dem Text nicht etwas Willkürliches, sondern eine große Verbindlichkeit und Aufrichtigkeit, die einen immer weiter in den Roman zieht.
התרגום
Die Übersetzung
Bei beiden Romanen entwickelten wir eine besondere Art der Zusammenarbeit, die weit über das literarische Übersetzen eines fertigen Textes hinausgeht und sich stellenweise eher als Fortschreibung des Ausgangstextes in beiden Sprachen gestaltete.
Warum passierte das zweimal gerade mit Zeruya Shalev? Ich arbeite gerne eng mit meinen Autorinnen und Autoren zusammen; vor allem in der ersten Phase, beim Übersetzen der ersten Kapitel, während ich versuche, ihren individuellen Stil in seiner Tiefe zu erfassen. Da stelle ich Fragen zu ganz konkreten Formulierungen, etwa: „Was hast du davon, wenn du diese ungewöhnliche Formulierung oder diese Art von Metapher benutzt?“ „Ich nehme in deinem Text etwas Schwebendes wahr, so ein Gefühl, dass wir nicht sicher sein können, ob das, was du beschreibst, die ganze Wahrheit ist. Ist das so stark beabsichtigt – soll ich das also auch auf Deutsch machen – oder ist das nur meine persönliche Wahrnehmung?“
Den Autorinnen und Autoren auf die Schliche kommen
Normalerweise sind die Bücher, die ich übersetze, auf Hebräisch bereits gedruckt oder zumindest im Satz. Ziel meiner Fragen ist es, der Autorin, dem Autor auf die Schliche zu kommen, wie ihr Text „gemacht“ ist, nicht etwas am feststehenden Text zu verändern. Aber Zeruyas Texte waren „noch weich“, nicht endgültig, Schicksal war noch nicht fertig geschrieben und Nicht ich war mitten in der Neubearbeitung, und so wurden meine Fragen zum tieferen Verständnis für sie zu Anregungen während ihres Schreibprozesses, und im Nu befanden wir uns in einem spannenden Gespräch über die feinsten Feinheiten des Ausdrucks im Hebräischen. Schon bald sprachen wir nicht mehr nur über meine Fragen, sondern Zeruya begann, sich mit mir zu beraten. Durch diese Gespräche wurde ich im zweiten Roman dann auch zur Lektorin des Originals.