דן פגיס
Dan Pagis
Dan Pagis, 1930 in Radautz in der Bukowina geboren, 1986 in Jerusalem gestorben, gehört heute zu den bedeutendsten israelischen Lyrikern und ist wohl der Dichter, dessen Gedichte die Auseinandersetzung mit der Shoah am nachhaltigsten beeinflusst haben. Er selbst erlebte in seiner Jugend Vertreibung und Gefangenschaft in transnistrischen Arbeitslagern.
Foto: Jonathan Pagis
הכתיבה
Das Werk
Pagis brachte von Anfang an einen unverkennbar eigenen Ton in die moderne hebräische Lyrik; er ging mit keiner Mode und gehörte keiner Strömung an. Mit scheinbarer Leichtigkeit und seltener Perfektion beherrschte er die vielfältigen klanglichen und rhythmischen Formen des Hebräischen und konnte aus diesem Reichtum heraus dann nach und nach auch auf sie verzichten und sich der freirhythmischen Lyrik und schließlich der poetisch verdichteten Prosa zuwenden.
Pagis erschafft eine vielschichtige Gegen-Realität. Diese „zweite Welt in der hiesigen“ bietet den Lesern jedoch kein eindeutiges Bild, sondern verlangt von ihnen, dass sie zu verstehen versuchen, sich einlassen, mitgehen, auch ins völlig Absurde – um dann plötzlich am Ende eines Gedichts zusammen mit dem Autor vor dessen Abgrund oder allein vor einem ganz persönlichen Abgrund zu stehen. Oft ist gerade das zunächst absurd Anmutende, zum Lachen Reizende die letzte, hauchdünne Maske vor dem Gesicht des Entsetzens, wobei die perfekt ausgefeilte Form dazu dient, ein aufgewühltes Innenleben zu beherrschen.
Erste Sprache Deutsch gut versteckt
Seine erste Sprache Deutsch, die Sprache seiner Mutter, versteckte er in seinen hebräischen Gedichten so gut, dass auch die aufmerksamen hebräischen Leser ihre Existenz nicht hätten ahnen können. Dennoch war Deutsch die Sprache, in welcher er in seinen Manuskripten, wo kein anderer es sah, seine eigenen hebräischen Texte kommentierte, gleichsam seine Sprache mit sich selbst, die letzte Instanz, die einzige, die hinter die Masken schauen durfte und konnte. Dort finden sich Bemerkungen wie „Noch immer zu süß“, „oder ohne Kristall?“ oder unten auf der Seite einfach „Ende“.
Über Persönliches, über seine Kindheit in der Shoah hat Pagis viele Jahre fast eifersüchtig geschwiegen. Erst in seinem 1970 veröffentlichten dritten Gedichtband Gilgul (Verwandlung) erscheinen erste ausdrückliche Gedichte zu dieser Zeit. In seinem letzten großen Text, abba, (Vater), hat er das schwierige Verhältnis zu seinem Vater ganz autobiografisch und zugleich in meisterhaft verdichteter Prosa thematisiert.
התרגום
Die Übersetzung
Dan Pagis ist der erste Lyriker, den ich übersetzt habe; seinen Gedichten begegnete ich erstmals im Ulpan (Hebräisch-Sprachkurs) am Shoah-Gedenktag. Als ich im Sommer 1986 nach Jerusalem zog, war er gerade gestorben, und ich konnte nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten.
Übersetzen als Lüften der Masken
Als ein Lüften der Masken habe ich die Arbeit an manchen seiner Gedichte erlebt, denn plötzlich ergaben sich im Deutschen klangliche oder semantische Zusammenhänge, die kein Zufall sein konnten, sich aber nur im Deutschen offenbarten. Nach und nach wurde mir klar, dass ich Pagis manchmal regelrecht in seine Muttersprache zurückübersetzte.
Darüber hinaus führte der Sprachwechsel vom Hebräischen ins Deutsche manchmal zu einem krassen Perspektivenwechsel, gerade bei den ab 1970 entstandenen Gedichten, welche die Shoah berühren. Bei diesen Gedichten ist das Deutsche nicht einfach eine andere Sprache, sondern die Sprache der Täterseite. Das von der Gemeinschaft der deutschen Sprecher implizierte „wir“ ist vor diesem historischen Hintergrund das genaue Gegenteil des hebräischen „anachnu“, geradezu seine Verneinung.
Nachwort von Anne Birkenhauer zu „An beiden Ufern der Zeit“ (pdf)